Inklusionsorientiertes Handeln braucht eine Sensibilisierung für Differenz

Tagungsrückblick

Auch in einer «Schule für alle» führt (heil-)pädagogisches Handeln dazu, dass Schüler:innen zu Ungleichen gemacht werden. Fachpersonen sind deshalb gefordert, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, wie sie im Schul- und Unterrichtsalltag Differenzen herstellen.

Kontakt

Daniel Hofstetter Titel Prof. Dr.

Funktion

Professor für Professionalisierung und Kompetenzentwicklung

Annette Koechlin Titel MA

Funktion

Senior Lecturer

(Heil-)pädagogisches Handeln stellt Unterschiede her. «Differenzieren» als pädagogische Tätigkeit heisst daher immer, dass man damit Unterschiede macht. Dass diese Herstellung von Differenz für Schüler:innen nicht unbedeutend und nicht ohne Konsequenzen ist, legte Thorsten Merl in seinem Referat dar. Seine Botschaft: Differenz ist immer ein Verhältnis von Norm und Abweichung. Betrachtet wird dabei aber nur die abweichende Seite. Die Norm bleibt unhinterfragt.

So werden gewisse Schüler:innen als «IF-Schüler:innen» bezeichnet, während alle anderen einfach «Schüler:innen» sind und keines weiteren Merkmals bedürfen. Auch im Schulalltag wird also die Markierung der Abweichung und die Nicht-Markierung der Norm deutlich. Während Schüler:innen (Norm) nicht näher beschrieben werden müssen, wird gefragt, wer IF-Schüler:innen (Abweichung) sind und wodurch sie sich unterscheiden. Der Blick auf Differenz soll daher daraufhin sensibilisiert werden, dass Fachpersonen gesellschaftlich etablierte hierarchische Unterscheidungen und Normen, welche mit Privilegien und Benachteiligungen verbunden sind, erkennen und hinterfragen.

Mit exklusiven Kategorien eine inklusive Praxis herstellen? Heilpädagogisches Handeln als Service-Leistung sieht sich mit der Paradoxie konfrontiert, durch Kategorisierungen spezielle Unterstützung zu ermöglichen und dadurch integrierend, gleichzeitig aber auch behindernd und exkludierend zu wirken. Marek Grummt hat sich in seiner Studie dieser Paradoxie angenommen und die Frage gestellt, wie inklusionsorientiertes Handeln aussehen könnte.

Seine Antwort: Es muss einer inklusionsorientierten Heil- und Sonderpädagogik auch um Dekonstruktion gehen. Das bedeutet, dass professionelles Handeln beinhaltet, die eigenen Herangehensweisen und Massnahmen hinsichtlich ihres aussondernden Potentials zu prüfen. Denn auch Fördermassnahmen implizieren immer eine gesellschaftliche Norm und richten den Blick auf Abweichungen. Wenn Schüler:innen eine sonderpädagogische Massnahme erhalten, ist daher Folgendes zu berücksichtigen: Eine zugesprochene Massnahme hat mit dem sozialen Kontext zu tun. Und: Die damit verbundene Zuschreibung der Kategorie «sonderpädagogischer Förderbedarf» kann zu einem Hindernis für Bildung und Teilhabe werden.

Das «Netzwerk Inklusionsorientierte Professionalität» nimmt sich dieser Thematik an. Es soll interessierten Personen aus Praxis, Hochschule und anderen Bildungseinrichtungen einen Raum bieten, um über die eigene Verstrickung in die Herstellung von Differenz und Ungleichheiten nachzudenken – und Handlungsalternativen zu entwickeln.

Daniel Hofstetter und Annette Koechlin sind die Gründer:innen des Netzwerks und äussern sich zu dessen Ziel: «Es geht um die bewusste Entscheidung, Situationen aus dem Schul- und Unterrichtsalltag immer wieder gemeinsam kritisch in den Blick zu nehmen. Im Wissen darum, dass Differenzen nicht sind, sondern gemacht werden und dass diese mit Ungleichheit verbunden sind, gilt es, sich die Frage zu stellen, wer in Situationen als was bezeichnet wird und was dies für die Ermöglichung und Begrenzung von Bildungsprozessen bedeuten kann.»

Die erste Netzwerktagung «Inklusionsorientierte Professionalität» fand am Samstag, 3. September 2022 an der HfH statt.

Autor:innen: Daniel Hofstetter, Prof. Dr. und Annette Koechlin, MA, HfH

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